Немецкий с любовью. Новеллы / Novellen Цвейг Стефан
© Перфилова Е. Д., адаптация текста, комментарии, словарь
© ООО «Издательство АСТ»
Brief einer Unbekannten
Als der bekannte Romanschriftsteller R. frhmorgens von dreitgigem erfrischendem Ausflug ins Gebirge wieder nach Wien zurckkehrte und am Bahnhof eine Zeitung kaufte, wurde er, kaum dass er das Datum berflog, erinnernd gewahr, dass heute sein Geburtstag sei. Der einundvierzigste, besann er sich rasch, und diese Feststellung tat ihm nicht wohl und nicht weh. Flchtig[1] berbltterte er die Seiten der Zeitung und fuhr mit einem Mietautomobil in seine Wohnung. Der Diener meldete aus der Zeit seiner Abwesenheit zwei Besuche sowie einige Telefonanrufe und berbrachte auf einem Tablett die angesammelte Post. Lssig[2] sah er den Einlauf an, riss ein paar Kuverts auf, die ihn durch ihre Absender interessierten; einen Brief, der fremde Schriftzge trug, schob er zunchst beiseite. Dann zndete er sich eine Zigarre an und griff nun nach dem zurckgelegten Brief.
Es waren etwa zwei Dutzend geschriebene Seiten in fremder, unruhiger Frauenschrift. Unwillkrlich betastete er noch einmal das Kuvert, ob nicht darin ein Begleitschreiben[3] vergessen geblieben wre. Aber der Umschlag war leer.
Seltsam, dachte er, und nahm das Schreiben wieder zur Hand. „Dir, der Du mich nie gekannt“, stand oben als Anruf, als berschrift. Verwundert hielt er inne: galt das ihm, galt das einem ertrumten[4] Menschen? Seine Neugier war pltzlich wach[5]. Und er begann den Brief zu lesen.
Mein Kind ist gestern gestorben – drei Tage und drei Nchte habe ich mit dem Tode um dies kleine Leben gerungen, vierzig Stunden bin ich an seinem Bette gesessen. Ich habe Khles um seine Stirn getan, ich habe seine unruhigen, kleinen Hnde gehalten Tag und Nacht. Am dritten Abend bin ich zusammengebrochen[6]. Meine Augen konnten nicht mehr, sie fielen zu, ohne dass ich es wusste. Drei Stunden oder vier war ich auf dem harten Sessel eingeschlafen, und indes hat der Tod ihn genommen. Nun liegt er dort, der se arme Knabe, in seinem schmalen Kinderbett, ganz so wie er starb. Nur die Augen sind geschlossen, seine klugen, dunkeln Augen. Ich wage nicht hinzusehen, ich wage nicht mich zu rhren, denn wenn die Kerzen flackern, huschen Schatten ber sein Gesicht und den verschlossenen Mund, und es ist dann so, als regten sich seine Zge, und ich knnte meinen, er sei nicht tot. Aber ich wei es, er ist tot, ich will nicht hinsehen mehr, um nicht noch einmal zu hoffen und enttuscht zu sein. Ich wei es, ich wei es, mein Kind ist gestern gestorben – jetzt habe ich nur Dich mehr auf der Welt, nur Dich, der Du von mir nichts weit. Nur Dich, der Du mich nie gekannt und den ich immer geliebt habe.
Ich habe die fnfte Kerze genommen und hier zu dem Tisch gestellt, auf dem ich an Dich schreibe. Denn ich kann nicht allein sein mit meinem toten Kind und zu wem sollte ich sprechen in dieser entsetzlichen Stunde, wenn nicht zu Dir, der Du mir alles warst und alles bist! Vielleicht kann ich nicht ganz deutlich zu Dir sprechen, vielleicht verstehst Du mich nicht – mein Kopf ist ja ganz dumpf. Ich glaube, ich habe Fieber, vielleicht auch schon die Grippe, die jetzt von Tr zu Tr schleicht, und das wre gut, denn dann ginge ich mit meinem Kinde. Manchmal wird es mir ganz dunkel vor den Augen, vielleicht kann ich diesen Brief nicht einmal zu Ende schreiben – aber ich will alle Kraft zusammentun, um einmal, nur dieses eine Mal zu Dir zu sprechen, Du mein Geliebter, der Du mich nie erkannt. Zu Dir allein will ich sprechen, Dir zum ersten Mal alles sagen. Mein ganzes Leben sollst Du wissen, das immer das Deine gewesen und um das Du nie gewusst. Aber Du sollst mein Geheimnis nur kennen, wenn ich tot bin, wenn Du mir nicht mehr Antwort geben musst, wenn das wirklich das Ende ist. Muss ich weiterleben, so zerreie ich diesen Brief und werde weiter schweigen, wie ich immer schwieg. Hltst Du ihn aber in Hnden, so weit Du, dass hier eine Tote Dir ihr Leben erzhlt, ihr Leben, das das Deine war. Frchte[7] Dich nicht vor meinen Worten; eine Tote will nichts mehr. Glaube mir alles, nur dies eine bitte ich Dich: man lgt nicht in der Sterbestunde eines einzigen Kindes.
Mein ganzes Leben will ich Dir verraten, das wahrhaft erst begann mit dem Tage, da ich Dich kannte. Vorher war blo etwas Trbes[8] und Verworrenes[9]. Als Du kamst, war ich dreizehn Jahre und wohnte im selben Hause, wo Du jetzt wohnst. Du erinnerst Dich wahrscheinlich nicht mehr an uns – wir waren ja ganz still. Du hast vielleicht nie unseren Namen gehrt, denn wir hatten kein Schild auf unserer Wohnungstr, und niemand kam, niemand fragte nach uns. Es ist ja auch schon so lange her, fnfzehn, sechzehn Jahre, nein, Du weit es gewiss nicht mehr, mein Geliebter, ich aber, oh, ich erinnere mich an jede Einzelheit, ich wei noch wie heute den Tag, nein, die Stunde, da ich zum ersten Mal von Dir hrte, Dich zum ersten Mal sah, und wie sollte ich auch nicht, denn damals begann ja die Welt fr mich.
Dulde, Geliebter, dass ich Dir alles, alles von Anfang erzhle, werde, ich bitte Dich, die eine Viertelstunde von mir zu hren nicht mde, die ich ein Leben lang Dich zu lieben nicht mde geworden bin. Ehe Du in unser Haus einzogst, wohnten hinter Deiner Tr hssliche, bse Leute. Arm wie sie waren, hassten sie am meisten die nachbarliche Armut. Der Mann war ein Trunkenbold[10] und schlug seine Frau. Meine Mutter hatte von Anfang an jeden Verkehr[11] mit ihnen vermieden und verbot mir, zu den Kindern zu sprechen. Das ganze Haus hasste mit einem gemeinsamen Instinkt diese Menschen, und als pltzlich einmal etwas geschehen war – ich glaube, der Mann wurde wegen eines Diebstahls eingesperrt – und sie mit ihrem Kram ausziehen mussten, atmeten wir alle auf. Ein paar Tage hing der Vermietungszettel[12] am Haustore, dann wurde er heruntergenommen, und durch den Hausmeister verbreitete es sich rasch, ein Schriftsteller, ein einzelner, ruhiger Herr, habe die Wohnung genommen.
Damals hrte ich zum ersten Mal Deinen Namen. Aber Dich selbst bekam ich noch nicht zu Gesicht: alle diese Arbeiten berwachte Dein Diener, dieser kleine, ernste, grauhaarige Herrschaftsdiener, der alles mit einer leisen Art von oben herab dirigierte. Er imponierte uns allen sehr, erstens, weil in unserem Vorstadthaus ein Herrschaftsdiener etwas ganz Neuartiges war, und dann, weil er zu allen so ungemein hflich war. Meine Mutter grte er vom ersten Tage an respektvoll als eine Dame. Wenn er Deinen Namen nannte, so geschah das immer mit einer gewissen Ehrfurcht[13], mit einem besonderen Respekt. Und wie habe ich ihn dafr geliebt, den guten alten Johann, obwohl ich ihn beneidete[14], dass er immer um Dich sein durfte und Dir dienen.
Ich erzhle Dir all das, Du Geliebter, all diese kleinen Dinge, damit Du verstehst, wie Du von Anfang an schon eine solche Macht gewinnen konntest ber das scheue[15] Kind, das ich war. Wir alle in dem kleinen Vorstadthaus warteten schon ungeduldig auf Deinen Einzug. Und diese Neugier nach Dir steigerte sich erst bei mir, als ich eines Nachmittags von der Schule nach Hause kam und der Mbelwagen vor dem Hause stand. Ich blieb an der Tr stehen, um alles bestaunen zu knnen, denn alle Deine Dinge waren so seltsam anders. Es gab da italienische Skulpturen, groe Bilder, und dann zum Schluss kamen Bcher, so viele und so schne, wie ich es nie fr mlich gehalten.
Ich glaube, ich htte sie stundenlang alle angesehen: da rief mich die Mutter hinein. Den ganzen Abend dann musste ich an Dich denken; noch ehe ich Dich kannte. Ich besa selbst nur ein Dutzend billige Bcher, die ich ber alles liebte und immer wieder las. Und nun habe ich gedacht, wie der Mensch sein msste, der all diese vielen herrlichen Bcher besa und gelesen hatte, der alle diese Sprachen wusste, der so reich war und so gelehrt[16] zugleich. Damals in jener Nacht und noch ohne Dich zu kennen, habe ich das erste Mal von Dir getrumt. Am nchsten Tage zogst Du ein, aber ich konnte Dich nicht zu Gesicht bekommen – das steigerte nur meine Neugier. Endlich, am dritten Tage, sah ich Dich, und wie erschtternd[17] war die berraschung fr mich, dass Du so anders warst. Einen bebrillten Greis[18] hatte ich mir getrumt, und da kamst Du – Du, ganz so, wie Du noch heute bist! Du trugst ein hellbrauner, entzckender Sportdress und liefst in Deiner unvergleichlich leichten knabenhaften Art die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Ich erschrak vor Erstaunen, wie jung, wie hbsch, wie federnd-schlank und elegant Du warst. Und ist es nicht seltsam: in dieser ersten Sekunde empfand ich ganz deutlich, dass Du irgendein zwiefacher[19] Mensch bist. Unbewusst empfand ich, was dann jeder bei Dir sprte, dass Du ein Doppelleben fhrst, ein Leben mit einer hellen, der Welt offen zugekehrten Flche, und einer ganz dunkeln, die Du nur allein kennst – diese tiefste Zweiheit, das Geheimnis Deiner Existenz, sie fhlte ich, die Dreizehnjhrige. Verstehst Du nun schon, Geliebter, was fr ein Wunder, Du fr mich, das Kind, sein musstest!
Muss ich Dir noch sagen, dass von diesem Tage an in unserem Hause, in meiner ganzen armen Kinderwelt mich nichts interessierte als Du. Ich beobachtete Dich, beobachtete die Menschen, die zu Dir kamen, und all das vermehrte nur, statt sie zu mindern, meine Neugier nach Dir selbst, denn die ganze Zwiefltigkeit Deines Wesens[20] drckte sich in der Verschiedenheit dieser Besuche aus. Da kamen junge Menschen, Kameraden von Dir, mit denen Du lachtest, abgerissene Studenten, und dann wieder Damen, die in Autos vorfuhren, einmal der Direktor der Oper, der groe Dirigent, dann wieder kleine Mdel, die noch in die Handelsschule gingen. Ich dachte mir nichts Besonderes dabei, auch nicht, als ich eines Morgens, wie ich zur Schule ging, eine Dame von Dir weggehen sah – ich war ja erst dreizehn Jahre alt, und die leidenschaftliche Neugier wusste im Kinde noch nicht, dass sie schon Liebe war. Aber ich wei noch genau, mein Geliebter, den Tag und die Stunde, wann ich ganz und fr immer an Dich verloren war. Ich hatte mit einer Schulfreundin einen Spaziergang gemacht, wir standen plaudernd vor dem Tor. Da kam ein Auto angefahren, hielt an, und schon sprangst Du mit Deiner ungeduldigen Art vom Trittbrett und wolltest in die Tr. Unwillkrlich[21] zwang es mich, Dir die Tr aufzumachen. Du sahst mich an mit warmen, weichen Blick, der wie eine Zrtlichkeit war, lcheltest mir und sagtest mit einer ganz leisen und fast vertraulichen Stimme: „Danke vielmals, Frulein.“
Das war alles, Geliebter; aber von dieser Sekunde, seit ich diesen weichen, zrtlichen Blick gesprt, war ich Dir verfallen. Ich habe ja spter erfahren, dass Du diesen Blick des geborenen Verfhrers, jeder Frau hingibst, die an Dich streift. Aber ich, das dreizehnjhrige Kind, ahnte das nicht: ich war wie in Feuer getaucht. Ich glaubte, die Zrtlichkeit gelte nur mir, nur mir allein, und in dieser einen Sekunde war die Frau in mir erwacht. „Wer war das?“ fragte meine Freundin. Ich konnte ihr nicht gleich antworten. Es war mir unmglich, Deinen Namen zu nennen: schon in dieser einzigen Sekunde war er mir heilig, war er mein
Geheimnis geworden. „Ach, irgendein Herr, der hier im Hause wohnt“, stammelte ich dann ungeschickt[22] heraus. „Aber warum bist du denn so rot geworden, wie er dich angeschaut hat?“ spottete[23] die Freundin mit eines neugierigen Kindes. Blde Gans“, sagte ich wild. Aber sie lachte nur noch lauter, bis ich fhlte, dass mir die Trnen in die Augen schossen. Ich lie sie stehen und lief hinauf. Von dieser Sekunde an habe ich Dich geliebt.
Ich wei, Frauen haben Dir oft dieses Wort gesagt. Aber glaube mir, niemand hat Dich so hingebungsvoll[24] geliebt wie dieses Wesen, das ich war. Nur einsame Kinder knnen ganz ihre Leidenschaft zusammenhalten[25]. Die andern spielen damit, wie mit einem Spielzeug, sie prahlen[26] damit, wie Knaben mit ihrer ersten Zigarette. Aber ich, ich hatte ja niemand, um mich anzuvertrauen: ich strzte hinein in mein Schicksal wie in einen Abgrund[27]. Alles, was in mir wuchs, wusste nur Dich, den Traum von Dir, als Vertrauten.
Mein Vater war lngst gestorben, die Mutter mir fremd in ihrer ewige Bedrcktheit[28], die Schulmdchen stieen mich ab, weil sie so leichtfertig[29] mit dem spielten, was mir letzte Leidenschaft war. Du warst mir – wie soll ich es Dir sagen? Jeder einzelne Vergleich ist zu gering – Du warst eben alles, mein ganzes Leben. Alles in meiner Existenz hatte nur Sinn, wenn es mit Dir verbunden war. Bisher mittelmig in der Schule, wurde ich pltzlich die Erste, ich las tausend Bcher bis tief in die Nacht, weil ich wusste, dass Du die Bcher liebtest, ich begann, zum Erstaunen meiner Mutter, pltzlich Klavier zu ben, weil ich glaubte, Du liebtest Musik. Ich putzte und nhte an meinen Kleidern. Aber Du hast mich ja nie, fast nie mehr angesehen. Und doch: ich tat eigentlich den ganzen Tag nichts als auf Dich warten. An unserer Tr war ein kleines Guckloch, durch dessen kreisrunden Ausschnitt man hinber auf Deine Tr sehen konnte. Dieses Guckloch – nein, lchle nicht, Geliebter, noch heute, noch heute schme ich mich jener Stunden nicht! – war mein Auge in die Welt hinaus, dort, im eiskalten Vorzimmer. Ich war immer um Dich, immer in Spannung und Bewegung. Ich wusste alles von Dir, kannte jede Deiner Gewohnheiten, jede Deiner Krawatten, jeden Deiner Anzge.
Ich wei, das sind alles kindische Torheiten, die ich Dir da erzhle. Aber ich schme mich nicht, denn nie war meine Liebe zu Dir reiner und leidenschaftlicher als in diesen kindlichen Exzessen.
Aber ich will Dich nicht langweilen. Nur das schnste Erlebnis meiner Kindheit will ich Dir noch anvertrauen. An einem Sonntag muss es gewesen sein. Du warst verreist, und Dein Diener schleppte die schweren Teppiche, durch die offene Wohnungstr. Er trug schwer daran, der Gute, und in einem Anfall von Verwegenheit ging ich zu ihm und fragte, ob ich ihm nicht helfen knnte. Er war staunt, aber lie mich gewhren, und so sah ich Deine Wohnung von innen.
Diese Minute war die glcklichste meiner Kindheit. Sie wollte ich Dir erzhlen, damit Du, der Du mich nicht kennst, endlich zu ahnen beginnst, wie ein Leben an Dir hing und verging. Ich merkte nicht, dass ein lterer Herr, ein Kaufmann aus Innsbruck fter kam und lnger blieb, ja, es war mir nur angenehm, denn er fhrte Mama manchmal in das Theater, und ich konnte allein bleiben, an Dich denken, was ja meine hchste, meine einzige Seligkeit[30] war.
Eines Tages nun rief mich die Mutter in ihr Zimmer; sie htte ernst mit mir zu sprechen. Ich wurde blass und hrte mein Herz pltzlich hmmern[31]: sollte sie etwas geahnt? Mein erster Gedanke warst Du, das Geheimnis, das mich mit der Welt verband. Aber die Mtter war selbst verlegen[32], sie ksste mich (was sie sonst nie tat), sie begann zu erzhlen, ihr Verwandter habe ihr einen Heiratsantrag gemacht, und sie sei entschlossen, ihn anzunehmen. Heier stieg mir das Blut zum Herzen: nur ein Gedanke antwortete von innen, der Gedanke an Dich. „Aber wir bleiben doch hier?“ konnte ich gerade noch stammeln[33]. „Nein, wir ziehen nach Innsbruck, dort hat Ferdinand eine schne Villa.“ Mehr hrte ich nicht. Mir ward schwarz vor den Augen. Spter wusste ich, dass ich in Ohnmacht[34] gefallen war. Was dann in den nchsten Tagen geschah, wie ich mich wehrte gegen ihren bermchtigen Willen, das kann ich Dir nicht schildern[35]: noch jetzt zittert mir, da ich daran denke, die Hand im Schreiben. Mein wirkliches Geheimnis konnte ich nicht verraten.
Niemand sprach mehr mit mir, alles geschah hinterrcks. Man nutzte die Stunden, da ich in der Schule war, um die bersiedlung zu frdern: kam ich dann nach Hause, so war immer wieder ein anderes Stck verrumt oder verkauft. Ich sah, wie die Wohnung und damit mein Leben verfiel, und einmal, als ich zum Mittagessen kam, waren die Mbelpacker dagewesen und hatten alles weggeschleppt. In den leeren Zimmern standen die gepackten Koffer und zwei Feldbetten fr die Mutter und mich: da sollten wir noch eine Nacht schlafen, die letzte, und morgen nach Innsbruck reisen.
An diesem letzten Tag fhlte ich mit pltzlicher Entschlossenheit, dass ich nicht mehr leben konnte ohne Deine Nhe. Wie ich mir es dachte und ob ich berhaupt klar in diesen Stunden der Verzweiflung[36] zu denken vermochte, das werde ich nie sagen knnen, aber pltzlich – die Mutter war fort – stand ich auf im Schulkleid, wie ich war, und ging hinber zu Dir. Nein, ich ging nicht: es stie mich mit steifen Beinen, mit zitternden[37] Gelenken magnetisch fort zu Deiner Tr. Ich sagte Dir schon, ich wusste nicht deutlich, was ich wollte: Dir zu Fen fallen [38]und Dich bitten, mich zu behalten als Magd, und ich frchte, Du wirst lcheln ber diesen unschuldigen Fanatismus einer Fnfzehnjhrigen, aber – Geliebter, Du wrdest nicht mehr lcheln, wsstest Du, wie ich damals drauen im eiskalten Gange stand, starr vor Angst. Es war ein Kampf durch die Ewigkeit entsetzlicher Sekunden – den Finger auf den Knopf der Trklingel drckte.
Aber du kamst nicht. Niemand kam. Du warst offenbar fort an jenem Nachmittage und Johann auf Besorgung. Ich ging in unsere zerstrte, ausgerumte Wohnung zurck. Aber unter dieser Erschpfung[39] glhte noch unverlscht die Entschlossenheit, Dich zu sehen, Dich zu sprechen, ehe sie mich wegrissen. Die ganze lange, entsetzliche Nacht habe ich dann, Geliebter, auf Dich gewartet. Kaum dass die Mutter sich in ihr Bett gelegt hatte und eingeschlafen war, schlich ich in das Vorzimmer hinaus, um zu horchen, wann Du nach Hause kmest. Die ganze Nacht habe ich gewartet, und es war eine eisige Januarnacht. Ich war mde, meine Glieder schmerzten mich, und es war kein Sessel mehr, mich hinzusetzen: so legte ich mich flach auf den kalten Boden, ber den der Zug von der Tr hinstrich. Ich musste immer wieder aufstehen, so kalt war es im entsetzlichen Dunkel. Aber ich wartete, wartete, wartete auf Dich wie auf mein Schicksal. Endlich – es muss schon zwei oder drei Uhr morgens gewesen sein – hrte ich unten das Haustor aufsperren und dann Schritte die Treppe hinauf. Warst Du es, der da kam? Ja, Du warst es, Geliebter – aber Du warst nicht allein. Du kamst mit einer Frau nach Hause… Wie ich diese Nacht berleben konnte, wei ich nicht. Am nchsten Morgen, um acht Uhr, schleppten sie mich nach Innsbruck.
Mein Kind ist gestern Nacht gestorben – nun werde ich wieder allein sein, wenn ich wirklich weiterleben muss. Morgen werden sie kommen, fremde, schwarze, ungeschlachte Mnner, und einen Sarg bringen, werden es hineinlegen, mein armes Kind. Vielleicht kommen auch Freunde und bringen Krnze. Sie werden mich trsten und mir irgendwelche Worte sagen. Was knnen sie mir helfen? Ich wei, ich muss dann doch wieder allein sein. Und es gibt nichts Entsetzlicheres, als Alleinsein unter den Menschen. Damals habe ich es erfahren, damals in jenen Jahren von meinem sechzehnten bis zu meinem achtzehnten, wo ich wie eine Gefangene zwischen meiner Familie lebte[40].
Der Stiefvater, ein sehr ruhiger, wortkarger Mann, war gut zu mir, meine Mutter schien allen meinen Wnschen bereit, junge Menschen bemhten sich um mich, aber ich stie sie alle in einem leidenschaftlichen Trotz[41] zurck. Ich wollte nicht glcklich, nicht zufrieden leben abseits von Dir. Die neuen, bunten Kleider, die sie mir kauften, zog ich nicht an. Ich weigerte mich, in Konzerte, in Theater zu gehen. Ich sa allein zu Hause, stundenlang, tagelang, und tat nichts, als an Dich zu denken. Ich kaufte mir alle Deine Bcher. Wenn Dein Name in der Zeitung stand, war es ein festlicher Tag. Willst Du es glauben, dass ich jede Zeile aus Deinen Bchern auswendig kann, so oft habe ich sie gelesen?
Die ganze Welt, sie existierte nur in Beziehung auf Dich. Doch war ich damals wirklich noch ein Kind? Ich wurde siebzehn, wurde achtzehn Jahre – die jungen Leute begannen sich auf der Strae nach mir umzublicken, doch sie erbitterten[42] mich nur. Mein ganzes Denken war in eine Richtung gespannt: zurck nach Wien, zurck zu Dir.
Mein Stiefvater war vermgend[43], er betrachtete mich als sein eigenes Kind. Aber ich drang in erbittertem Starrsinn darauf, ich wolle mir mein Geld selbst verdienen, und erreichte es endlich, dass ich in Wien zu einem Verwandten als Angestellte eines groen Konfektionsgeschftes kam. Muss ich Dir sagen, wohin mein erster Weg ging, als ich an einem nebligen Herbstabend – endlich! endlich! – in Wien ankam?
Ich lie die Koffer an der Bahn, strzte mich in eine Straenbahn und lief vor das Haus. Deine Fenster waren erleuchtet, mein ganzes Herz klang. Ich sah nur empor[44] und empor: da war Licht, da war das Haus, da warst Du, da war meine Welt. Zwei Jahre hatte ich von dieser Stunde getrumt, nun war sie mir geschenkt. Ich stand den langen, weichen Abend vor Deinen Fenstern, bis das Licht erlosch.
Dann suchte ich erst mein Heim. Jeden Abend stand ich dann so vor Deinem Haus. Bis sechs Uhr hatte ich Dienst im Geschft, harten, anstrengenden Dienst, aber er war mir lieb, denn diese Unruhe lie mich die eigene nicht so schmerzhaft fhlen. Nur Dich einmal sehen, nur einmal Dir begegnen, das war mein einziger Wille, nur wieder einmal mit dem Blick Dein Gesicht umfassen[45] drfen von ferne. Etwa nach einer Woche geschah dann endlich, dass ich Dir begegnete, und zwar gerade in einem Augenblick, wo ich es nicht vermutete: whrend ich eben hinauf zu Deinen Fenstern sphte[46], kamst Du quer ber die Strae. Und pltzlich war ich wieder das Kind, das dreizehnjhrige, ich fhlte, wie das Blut mir in die Wangen schoss; unwillkrlich, wider meinen innersten Drang, der sich sehnte, Deine Augen zu fhlen, senkte ich den Kopf und lief blitzschnell an Dir vorbei. Nachher schmte ich mich dieser schulmdelhaften Flucht[47], denn jetzt war mein Wille mir doch klar: ich wollte Dir ja begegnen, ich suchte Dich, ich wollte von Dir erkannt sein, wollte von Dir beachtet, wollte von Dir geliebt sein.
Aber Du bemerktest mich lange nicht. Oft wartete ich stundenlang vergebens, oft gingst Du dann endlich vom Hause in Begleitung von Bekannten fort, zweimal sah ich Dich auc mit Frauen, und nun empfand ich mein Erwachsensein, empfand das Neue, Andere meines Gefhls zu Dir an dem pltzlichen Herzzucken, das mir quer die Seele zerriss, als ich eine fremde Frau so sicher Arm in Arm mit Dir hingehen sah. Und endlich, an einem Abend bemerktest Du mich. Unwillkrlich[48] streifte mich Dein zerstreuter[49] Blick, um sofort, kaum dass er der Aufmerksamkeit des meinen begegnete – wie erschrak die Erinnerung in mir! – jener Dein Frauenblick, jener zrtliche[50], hllende[51] und gleichzeitig enthllende Blick zu werden, der mich, das Kind, zum ersten Mal zur Frau, zur Liebenden erweckt. Ein, zwei Sekunden lang hielt dieser Blick so den meinen, der sich nicht wegreien konnte und wollte – dann warst Du an mir vorbei.
Mir schlug das Herz: unwillkrlich musste ich meinen Schritt verlangsamen, und wie ich aus einer nicht zu bezwingenden Neugier mich umwandte, sah ich, dass Du stehen geblieben warst und mir nachsahst. Und an der Art, wie Du neugierig interessiert mich beobachtetest, wusste ich sofort: Du erkanntest mich nicht. Du erkanntest mich nicht, damals nicht, nie, nie hast Du mich erkannt.
Wie soll ich sie Dir schildern, diese Enttuschung! Denn sieh, in diesen zwei Jahren in Innsbruck, wo ich jede Stunde an Dich dachte und nichts tat, als mir unsere erste Wiederbegegnung in Wien auszudenken. Du erkanntest mich nicht damals. Und als zwei Tage spter Dein Blick mit einer gewissen Vertrautheit bei erneuter Begegnung mich umfing, da erkanntest Du mich als das hbsche achtzehnjhrige Mdchen, das Dir vor zwei Tagen an der gleichen Stelle entgegengetreten. Du sahst mich freundlich berrascht an, ein leichtes Lcheln umspielte Deinen Mund. Wieder gingst Du an mir vorbei und wieder den Schritt sofort verlangsamend. Ich fhlte, dass ich zum ersten Mal fr Dich lebendig war. Und pltzlich sprte ich Dich hinter mir, ohne mich umzuwenden, ich wusste, nun wrde ich zum ersten Mal Deine geliebte Stimme an mich gerichtet hren. Da trtest Du an meine Seite. Du sprachst mich an mit Deiner leichten heitern Art, als wren wir lange befreundet. Wir gingen zusammen die ganze Gasse entlang. Dann fragtest Du mich, ob wir gemeinsam speisen wollten. Ich sagte ja. Was htte ich Dir gewagt zu verneinen[52]? Wir speisten zusammen in einem kleinen Restaurant – weit Du noch, wo es war? Ach nein, Du unterscheidest es gewiss nicht mehr von andern solchen Abenden, denn wer war ich Dir? Eine unter Hunderten. Keinen Augenblick davon wollte ich durch eine Frage vergeuden[53]. Nie werde ich Dir von dieser Stunde dankbar vergessen. Ach, Du weit ja nicht, ein wie Ungeheures Du erflltest, indem Du mir fnf Jahre kindischer Erwartung nicht enttuschtest!
Es wurde spt, wir brachen auf. An der Tr des Restaurants fragtest Du mich, ob ich noch Zeit htte. Ich sagte, ich htte noch Zeit, Dann fragtest Du, ob ich nicht noch ein wenig zu Dir kommen wollte, um zu plaudern. „Gerne“, sagte ich und merkte sofort, dass Du von der Raschheit meiner Zusage irgendwie sichtlich berrascht. Ich wei, dass vielleicht nur die Professionellen der Liebe eine solche Einladung mit einer so vollen freudigen Zustimmung beantworten, oder ganz naive, ganz halbwchsige Kinder. In mir aber war es – und wie konntest Du das ahnen – nur der starke Wille. Jedenfalls aber ich begann Dich zu interessieren. Ich sprte, dass Du, whrend wir gingen, von der Seite her whrend des Gesprches mich irgendwie erstaunt mustertest[54]. Der Neugierige in Dir war wach, und ich merkte wie Du nach dem Geheimnis tasten wolltest. Aber ich wollte lieber tricht erscheinen als Dir mein Geheimnis verraten. Wir gingen zu Dir hinauf.