Îòåëü / Hotel Õåéëè Àðòóð
Reisender, bitte, suche Unterkunft in diesem unwrdigen Haus.
Das Bad ist bereitet. Ein friedliches Zimmer wartet auf Dich.
Tritt ein! Tritt ein!
Inschrift ber dem Eingang eines Gasthofes in Takamatsu, Japan.
MONTAGABEND
1
Wenn es nach mir ginge, dachte Peter McDermott, ich htte den Hausdetektiv lngst rausgeworfen. Aber es geht nicht nach mir, und jetzt ist der feiste Expolizist wieder mal nicht da, wie immer, wenn man ihn dringend braucht.
McDermott, athletisch gebaut und einsachtundneunzig gro, beugte sich ber den Schreibtisch und rttelte ungeduldig an der Gabel des Telefons. »Im Hotel ist der Teufel los, und der verflixte Kerl ist nirgends aufzufinden«, sagte er zu dem Mdchen, das am Fenster des gerumigen, mit Teppichen ausgelegten Bros stand.
Christine Francis warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war kurz vor elf. »Versuchen Sie's doch mal mit der Bar in der Baronne Street.«
Peter McDermott nickte. »Die Zentrale ruft der Reihe nach Ogilvies Stammkneipen an.« Er zog eine Schreibtischschublade auf, holte Zigaretten heraus, bot sie Christine an und gab ihr Feuer. Whrend er sich selbst eine anzndete, beobachtete er, wie Christine den Rauch tief einatmete.
Christine Francis hatte berstunden gemacht und ihr eigenes kleines Bro im Verwaltungstrakt des St.-Gregory-Hotels erst vor wenigen Minuten verlassen. Sie wollte eigentlich nach Hause gehen, aber der Lichtschein unter der Tr des stellvertretenden Direktors hatte sie magisch angezogen.
»Unser Mr. Ogilvie macht, was er will«, sagte sie. »So war's von jeher. Und W. T. hlt ihm die Stange.«
McDermott sprach kurz ins Telefon und wartete weiter. »Stimmt«, sagte er zu Christine. »Ich habe vor kurzem ja einmal versucht, unseren lahmen Detektivtrupp ein bichen aufzumbeln. Prompt wurde ich zurckgepfiffen.«
»Das wute ich nicht«, sagte sie leise.
Er sah sie forschend an. »Und ich dachte, Sie wten alles.«
Im allgemeinen traf das auch zu. Als persnliche Assistentin von Warren Trent, dem launenhaften und jhzornigen Eigentmer des grten Hotels in New Orleans, war Christine ber die wohlgehteten Geheimnisse des Hotels ebenso genau im Bilde wie ber die tglichen Routineangelegenheiten. Sie wute beispielsweise, da Peter, der vor ein oder zwei Monaten zum stellvertretenden Direktor befrdert worden war, das riesige, von emsiger Geschftigkeit erfllte St. Gregory praktisch allein leitete, aber ein keineswegs angemessenes Gehalt bezog und nur ber begrenzte Befehlsgewalt verfgte. Sie kannte auch die Grnde dafr, die in einer Akte mit der Aufschrift »Streng vertraulich« zusammengetragen waren und Peter McDermotts Privatleben betrafen.
»Wo brennt's denn?« erkundigte sie sich.
Peter McDermott verzog sein kantiges, derbes, beinahe hliches Gesicht zu einem frhlichen Grinsen. »berall. In der elften Etage beschwert sich jemand ber eine Art Orgie; die Herzogin von Croydon in der neunten beklagt sich ber einen Zimmerkellner, der angeblich ihren Herzog beleidigt hat; in 1439 sthnte jemand so laut, da seine Nachbarn nicht schlafen knnen; der Nachtmanager ist krank geschrieben, der Hausdetektiv treibt sich Gott wei wo rum, und seine beiden Leute sind anderweitig beschftigt.«
Er sprach wieder ins Telefon, und Christine ging zurck zum Fenster, das sich im ersten Stock befand. Sie bog den Kopf leicht zurck, um die Augen vor dem Zigarettenrauch zu schtzen, und blickte abwesend hinaus auf die Stadt. Durch eine breite Schlucht, die sich unmittelbar vor ihr zwischen hochragenden Gebuden auftat, konnte sie in das enge, von Menschen wimmelnde Franzsische Viertel hineinsehen. Eine Stunde vor Mitternacht war fr diese Gegend noch frh am Abend; die Lampen vor den Nachtbars, Bistros, Jazzkellern und Striptease-Lokalen - und die Lichter hinter den heruntergelassenen Jalousien - wrden bis weit in den nchsten Morgen hinein brennen.
Irgendwo im Norden, vermutlich ber dem See Pontchartrain, braute sich im nchtlichen Dunkel ein Sommergewitter zusammen. Mit dumpfen Grollen und Wetterleuchten kam es nher. Wenn sie Glck hatten und das Unwetter nach Sden zum Golf von Mexiko zog, wrde es vielleicht noch vor dem Morgen regnen.
Der Regen wre eine Wohltat, dachte Christine. Seit drei Wochen lag New Orleans im Bann schwler, lhmender Hitze, die an den Nerven zerrte, Spannungen erzeugte und Unfrieden stiftete. Auch fr das Hotel wre er eine Entlastung. Erst am Nachmittag hatte der Chefingenieur wieder einmal seinem Kummer Luft gemacht. »Wenn ich die Klimaanlage noch lange auf vollen Touren laufen lassen mu, kann ich fr nichts mehr garantieren.«
Peter McDermott legte den Hrer auf, und Christine fragte: »Wissen Sie, wie der Gast heit, der so schrecklich sthnt?«
Er schttelte den Kopf und griff erneut nach dem Hrer. »Nein, aber ich kann mich erkundigen. Wahrscheinlich war's nur ein Alptraum, aber wir wollen doch lieber mal nachsehen.«
Als sich Christine in einen tiefen Ledersessel vor dem groen Mahagonischreibtisch sinken lie, merkte sie pltzlich, wie mde sie war. Sonst war sie um diese Zeit schon lngst daheim in ihrer Wohnung in Gentilly. Aber es war ein ungewhnlich arbeitsreicher Tag gewesen, da nicht nur eine Menge regulrer Gste, sondern auch die Teilnehmer zweier Kongresse eingetroffen waren, und viele der auftretenden Schwierigkeiten hatte schlielich sie selbst lsen mssen.
»Das war's, danke.« McDermott machte sich eine Notiz und legte den Hrer auf. »Der Name ist Albert Wells, aus Montreal.«
»Dann kenn' ich ihn«, sagte Christine. »Ein netter kleiner Mann, der jedes Jahr herkommt. Wenn Sie wollen, kmmere ich mich um ihn.«
Er betrachtete unschlssig ihre zarte schlanke Gestalt.
Das Telefon schrillte, und er hob den Hrer ab. »Tut mir leid, Sir«, sagte das Mdchen aus der Zentrale, »aber wir knnen Mr. Ogilvie nirgends finden.«
»Da kann man nichts machen. Geben Sie mir den Chefportier.« Wenn er auch den Chefdetektiv nicht hinauswerfen konnte, dachte McDermott, so wrde er wenigstens gleich morgen frh ordentlich Krach schlagen. Im brigen konnte er ebensogut jemand anderen mit Nachforschungen in der elften Etage betrauen, und mit der Beschwerde des Herzogs und der Herzogin von Croydon wrde er sich selbst befassen.
»Chefportier«, tnte es aus der Muschel, und Peter McDermott erkannte die fade nselnde Stimme Herbie Chandlers. Der Chefportier des St. Gregory gehrte wie Ogilvie zu den langjhrigen Angestellten und betrieb angeblich mehr dunkle Nebengeschfte als irgend jemand sonst vom Personal.
McDermott erklrte Chandler kurz, worum es sich handelte, und beauftragte ihn, der Sache nachzugehen. Es berraschte ihn nicht sonderlich, als der Chefportier protestierte. »Das geht mich nichts an, Mr. Mac, und auerdem kann ich jetzt hier unten nicht weg. Wir haben alle Hnde voll zu tun.« Der Tonfall war typisch fr Chandler - kriecherisch und unverschmt zugleich.
»Keine Ausreden. Sie werden sich um die Angelegenheit kmmern.« Nachtrglich fgte er hinzu: »Und noch eins: Schicken Sie einen Boy mit einem Hauptschlssel in den ersten Stock zu Miss Francis.« Er legte rasch auf, bevor Chandler antworten konnte.
»Gehen wir.« Er berhrte Christines Schulter leicht mit der Hand. »Nehmen Sie den Boy als Leibwache mit und sagen Sie Ihrem Freund Mr. Wells, wenn er Alpdrcken hat, soll er knftig unter die Bettdecke kriechen.«
2
Herbie Chandler lehnte nachdenklich an seinem Stehpult in der Halle des St. Gregory. Auf seinem Wieselgesicht malte sich inneres Unbehagen.
Von seinem Befehlsstand aus, neben einer der kannelierten Betonsulen, die bis zur reichdekorierten, gewlbten Decke hinaufreichten, hatte er einen ausgezeichneten berblick ber das Kommen und Gehen in der Halle. Im Moment herrschte reger Betrieb. Die Kongreteilnehmer waren en ginzen Abend ber auf den Beinen gewesen, und je spter es wurde, desto mehr bestrkte sie der konsumierte Alkohol in ihrem Entschlu, sich nach Krften zu amsieren.
Whrend Chandler gewohnheitsmig die Augen schweifen lie, kam eine Gruppe lrmender Zecher von der Carondelet Street herein, drei Mnner und zwei Frauen; in den Hnden schwenkten sie Schnapsglser, die sie in Pat O'Briens Bar im Franzsischen Viertel fr einen Dollar pro Stck als Souvenir erstanden hatten. Einer der Mnner, der nicht mehr fest auf den Beinen war, mute von den beiden anderen gesttzt werden. Alle drei waren Kongreteilnehmer und trugen eine Plakette am Rockaufschlag mit dem Aufdruck »Gold Crown Cola« und darunter ihren Namen. Als sie im Zickzack durch die Halle steuerten, machten die anderen Gste gutmtig Platz, bis das schwankende Quintett schlielich in der Bar verschwand.
Noch immer trafen neue Gste ein - mit den spten Zgen und Verkehrsmaschinen. In kleinen Gruppen sammelten sie sich vor dem Empfang und wurden dann von Chandlers Boys in ihre Zimmer gefhrt. Die Bezeichnung »Boy« bezog sich hier allerdings nur auf die Berufsgattung, denn keiner der sogenannten Boys war unter vierzig, und einige arbeiteten schon ein Vierteljahrhundert oder lnger im Hotel.
Herbie Chandler, der in seinem Ressort frei entscheiden konnte, stellte lieber ltere Mnner ein. Ein alter Mann, der nur mhsam unter Schnauben und Grunzen mit dem Gepck zurechtkam, kassierte aller Voraussicht nach grere Trinkgelder als ein junger Bursche, der schwere Koffer auf den Schultern balancierte, als wren sie leicht wie Balsaholz. Einer der langjhrigen Angestellten, ein krftiger, sehniger Kerl, hatte sich einen speziellen Trick ausgedacht. Wenn er vor dem Gast herging, setzte er die Koffer alle paar Meter ab, drckte sich japsend die Hand aufs Herz und schleppte die Last kopfschttelnd weiter. Der Kniff brachte ihm selten weniger als einen Dollar ein, weil seine zerknirschten Opfer berzeugt waren, da ihn an der nchsten Ecke ein Herzschlag treffen wrde. Was sie nicht wuten, war, da zehn Prozent aller Trinkgelder in Herbie Chandlers Tasche wanderten und da jeder Boy ihm auerdem tglich zwei Dollar zahlen mute, wenn er seinen Posten behalten wollte.
Chandlers privates Besteuerungssystem erboste seine Untergebenen, obwohl ein Boy, der seine Sache verstand, es trotzdem auf 150 Dollar Reinverdienst in der Woche bringen konnte, wenn das Hotel voll besetzt war. Bei starkem Andrang, wie in dieser Nacht, blieb der Chefportier weit ber die normale Dienstzeit auf seinem Posten. Er traute niemandem und zog es vor, selbst ein Auge auf seine Prozente zu haben. Die Genauigkeit, mit der er Gste und Trinkgelder einschtzte und erriet, wieviel ein Ausflug in die obersten Etagen einbringen wrde, war unheimlich. Es gab immer wieder verstockte Individualisten, die Herbie zu betrgen versuchten und ihm einen Teil ihrer Einnahmen unterschlugen. Aber die Strafe lie nie auf sich warten und erfolgte mit so unfehlbarer, grausamer Treffsicherheit, da die armen Ketzer schnell zu Kreuze krochen.
Chandlers Ausdauer hatte jedoch in dieser Nacht noch einen anderen Grund. Seine Nervositt hatte seit Peter McDermotts Anruf stndig zugenommen. McDermott hatte ihm befohlen, der Beschwerde in der elften Etage nachzugehen. Aber Chandler brauchte ihr nicht nachzugehen, weil er sich ohnedies so ziemlich vorstellen konnte, was oben los war. Er selbst hatte die Orgie arrangiert.
Vor etwa drei Stunden hatten zwei junge Leute ihm ihre diesbezglichen Wnsche ganz offen mitgeteilt, und da beider Vter reiche ortsansssige Brger und gute Kunden des Hotels waren, hatte Herbie respektvoll zugehrt. »Also, Herbie«, hatte der eine gesagt, »heute abend steigt hier der Verbindungsball... , der gleiche alte Krampf wie jedes Jahr, und wir mchten gern mal was anderes erleben.«
»Was, zum Beispiel?« hatte er gefragt, obwohl er die Antwort im voraus wute.
»Wir haben eine Suite genommen, und« - der Junge errtete -»wir wollen ein paar Mdchen.«
Herbie entschied sofort, da die Sache zu riskant war. Die beiden waren nicht viel mehr als Schulbuben, und auerdem kam es ihm ganz so vor, als htten sie getrunken. Er schttelte den Kopf und fing an: »Tut mir leid, meine Herren...« Aber der zweite Junge unterbrach ihn.
»Kommen Sie uns blo nicht mit dummen Ausreden. Wir wissen doch, da Sie hier die Gste mit Callgirls beliefern.«
Chandler zeigte seine Frettchenzhne und verzerrte das Gesicht zu einem gezwungenen Lcheln. »Ich mchte wissen, wer Ihnen das eingeredet hat, Mr. Dixon.«
Der Junge, der zuerst gesprochen hatte, lie nicht locker. »Wir knnen zahlen, Herbie, das wissen Sie doch.«
Der Chefportier war noch immer unschlssig, aber seine Gedanken kreisten gierig um das verlockende Geschft. Gerade in den letzten Wochen hatte sein Nebenverdienst nachgelassen. Vielleicht war die Sache doch nicht so gefhrlich.
»Also, los«, sagte der Junge namens Dixon. »Geben Sie sich einen Ruck. Wieviel?«
Herbie musterte die Kunden, dachte an ihre wohlhabenden Vter und multiplizierte den Einheitstarif mit zwei. »Hundert Dollar.«
»Abgemacht«, erklrte Dixon nach kurzem Zgern und wandte sich an seinen Kameraden. »Hr zu, Lyle, den Schnaps haben wir schon bezahlt, und was dir zu deinem Anteil fehlt, pump' ich dir.«
»Na gut... «
»Gezahlt wird im voraus, meine Herren.« Herbie fuhr sich mit der Zunge ber die dnnen Lippen. »Und noch eins. Machen Sie blo keinen Lrm. Falls es zu laut wird und die anderen Gste sich beschweren, kann das fr uns alle sehr unangenehme Folgen haben.«
Vor einer Stunde hatten die Mdchen wie blich die Halle durch den Haupteingang betreten, und nur ein paar eingeweihte Hotelangestellte hatten gemerkt, da es sich nicht um regulre Gste handelte. Normalerweise htten die zwei schon lngst wieder auf demselben Weg unauffllig verschwunden sein mssen.
Die Beschwerde aus der elften Etage, in der ausdrcklich auf eine Orgie hingewiesen wurde, lie darauf schlieen, da irgend etwas schiefgegangen war. Aber was? Herbie fiel Dixons Bemerkung ber die Schnapsvorrte ein, und ihm wurde noch unbehaglicher zumute.
Trotz der auf Hochtouren laufenden Klimaanlage war es drckend hei in der Halle, und Herbie zog ein seidenes Taschentuch heraus, um sich den Schwei von der Stirn zu wischen. Zugleich verfluchte er insgeheim seinen idiotischen Leichtsinn und fragte sich, ob er hinaufgehen oder sich, in diesem Stadium, nicht lieber vom Schauplatz des Geschehens fernhalten sollte.
3
Peter McDermott fuhr im Lift bis zur neunten Etage. Dort verlie er Christine, die mit dem Boy bis zum 14. Stock fuhr. An der offenen Lifttr blieb er zgernd stehen. »Rufen Sie mich, falls es zu Unannehmlichkeiten kommt.«
Sie lchelte. »Wenn's brenzlig wird, schrei' ich laut um Hilfe.« Whrend die Tren geruschlos zuglitten, blickte sie ihn einen Moment lang voll an. Dann schlossen sich die Tren, und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Peter starrte nachdenklich auf die leere Stelle, wo er eben noch ihr Gesicht gesehen hatte, wandte sich ab und eilte mit groen Schritten durch den mit Teppich ausgelegten Korridor auf die Prsidentensuite zu.
Die grte und eleganteste Suite des St. Gregory - von den Angestellten auch »Prominentenstall« genannt - hatte im Laufe der Jahre viele distinguierte Gste beherbergt, darunter auch Prsidenten, Frstlichkeiten und gekrnte Hupter.
Die meisten Prominenten mochten New Orleans. Die Stadt besa eine eigene, sympathische Form von Gastlichkeit. Sie begrte ihre Gste - und lie sie dann tun, was sie wollten. Sie respektierte ihr Privatleben, auch wenn es ein wenig ber die Strnge schlagen sollte.
Die gegenwrtigen Bewohner der Prsidentensuite, nicht gerade Staatsoberhupter, aber doch wichtig genug, um als Renommiergste gelten zu knnen, waren der Herzog und die Herzogin von Croydon mit ihrem Gefolge: einem Privatsekretr, der Kammerzofe der Herzogin und fnf Bedlingon-Terriern. Peter McDermott blieb vor der doppelt gepolsterten, mit vergoldeten Wappenlilien geschmckten Tr stehen und drckte einen Perlmuttknopf. Er hrte innen den gedmpften Ton des Summers und, Sekunden spter, das aufgeregte Geklff der Hunde. Whrend er wartete, rief er sich ins Gedchtnis, was er vom Hrensagen und aus eigener Erfahrung ber die Croydons wute. Der Herzog, Abkmmling eines alten Geschlechts, hatte sich mit untrglichem Gefhl fr Popularitt den Erfordernissen einer neuen Zeit angepat. In den letzten zehn Jahren war er, untersttzt von der Herzogin, die selbst eine profilierte Persnlichkeit war und als Verwandte des englischen Knigshauses im Mittelpunkt des ffentlichen Interesses stand, als Gesandter der britischen Regierung zu besonderer Verwendung immer wieder mit schwierigen und heiklen diplomatischen Missionen betraut worden. In der letzten Zeit waren allerdings ab und zu Gerchte aufgetaucht, da die Popularitt des Herzogs sich Gebieten zuwandte, die seiner diplomatischen Karriere nicht eben frderlich sein konnten. Man munkelte von einer gewissen Vorliebe fr Alkohol und verheiratete Frauen. Andere Gerchte wollten allerdings wissen, da solche Vorkommnisse die Aussichten des Herzogs nicht getrbt htten und da die energische Herzogin die Situation fest in der Hand habe. Man sprach sogar davon, die Ernennung des Herzogs von Croydon zum britischen Botschafter in Washington stehe bevor.
»Verzeihen Sie, Mr. McDermott«, murmelte eine Stimme hinter Peters Rcken, »haben S ie einen Moment Zeit fr mich?«
McDermott schwenkte herum und erkannte Sol Natchez, einen der lteren Etagenkellner, der lautlos den Korridor heruntergekommen war. Natchez war ein hagerer Mann, leichenhaft bla mit eingefallenen Gesichtszgen. Er trug eine kurze weie Jacke mit Bordren in Rot und Gold - den Farben des Hotels. Seine Haare waren mit Pomade geglttet und in einer altmodischen Stirnlocke nach vorn gekmmt. Die fahlen Augen trnten, und die Adern auf seinen drren Hnden, die er nervs knetete, ragten wie Strnge hervor.
»Was gibt's, Sol?«
Mit einer Stimme, die vor unterdrckter Erregung bebte, sagte der Kellner: »Ich nehme an, Sie sind wegen der Beschwerde hier... der Beschwerde ber mich.«
Peter warf einen Blick auf die Tr, die bisher nicht geffnet worden war. Aus dem Inneren der Suite war auer dem Klffen der Hunde bisher kein Laut gedrungen. »Erzhlen Sie mir schnell, was passiert ist.«
Der andere schluckte krampfhaft. Ohne auf die Frage einzugehen, flsterte er hastig und flehend: »Wenn ch meine Stellung verliere, Mr. McDermott, ist's fr mich in meinem Alter schwer, eine neue zu finden.« Er betrachtete die Prsidentensuite mit halb besorgter, halb gehssiger Miene. »Im allgemeinen komme ich gut mit ihnen aus... aber heute abend war's wie verhext. Sie sind ziemlich anspruchsvoll, aber das hat mir nie was ausgemacht, obwohl sie keine Trinkgelder geben.«
McDermott mute unwillkrlich lcheln. Angehrige des englischen Adels gaben selten ein Trinkgeld, vielleicht weil sie glaubten, da die Ehre, sie bedienen zu drfen, Belohnung genug sei.
»Sie haben mir noch immer nicht gesagt -«
»Ich wollte gerade darauf zu sprechen kommen, Mr. McDermott.« Peter war die Zerknirschtheit dieses Mannes, der alt genug war, um sein Grovater zu sein, fast peinlich. »Es ist ungefhr eine halbe Stunde her. Sie hatten ein sptes Nachtmahl bestellt... der Herzog und die Herzogin, meine ich... Austern, Champagner und Shrimps Creole.«
»Schn, und was ist dann passiert?«
»Es ist bei den Shrimps Creole passiert, Sir. Als ich sie servierte... also, ich wei selbst nicht, wie's zuging... in all den Jahren ist mir das kaum jemals passiert -«
»Mein Gott, kommen Sie zur Sache, Sol!« Peter lie die Tr nicht aus den Augen, um das Gesprch sofort abzubrechen, falls sie sich ffnete.
»Ja, Mr. McDermott. Als ich die Creole servierte, stand die Herzogin vom Tisch auf, und als sie zurcktrat, stie sie mich am Arm. Also, wenn ich's nicht besser wte, wrde ich sagen, sie htte es absichtlich getan.«
»Das ist doch absurd!«
»Ich wei, Sir. Aber das Theater danach...! Es hat nur einen kleinen Fleck gegeben... ich schwre Ihnen, Sir, er war nicht grer als ein halber Zentimeter.. auf dem einen Hosenbein des Herzogs.«
»Und das ist alles?« fragte Peter zweifelnd.
»Ja. Ich kann beschwren, da es nicht mehr war, Mr. McDermott. Aber bei dem Theater, das die Herzogin machte... htte man denken knnen... ich htte einen Mord begangen. Ich entschuldigte mich, holte eine saubere Serviette und Wasser, um den Fleck wegzumachen, aber das gengte ihr nicht. Sie wollte unbedingt mit Mr. Trent sprechen -«
»Mr. Trent ist nicht im Hotel.«
Peter beschlo, sich zunchst die Version der anderen Seite anzuhren, bevor er eine Entscheidung fllte. »Wenn Sie fr heute fertig sind, gehen Sie am besten nach Hause. Melden Sie sich morgen wie immer zum Dienst. Dann werden Sie erfahren, was weiter geschieht.«
Als der Kellner verschwunden war, drckte Peter McDermott wieder auf die Klingel. Kaum hatten die jungen Hunde von neuem zu bellen begonnen, als die Tr von einem jungen Mann geffnet wurde, der ein rundes Gesicht hatte und einen Kneifer auf der Nase trug - dem Sekretr der Croydons.
Bevor einer der beiden etwas uern konnte, rief eine weibliche Stimme aus dem Inneren der Suite: »Wer immer auch an der Tr ist, sagen Sie ihm, er soll endlich aufhren zu klingeln.« Es war eine Stimme, fand Peter, die trotz ihres herrischen Tonfalls anziehend wirkte und durch ihre rauhe Klangflle Interesse erregte.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte er zum Sekretr, »ich dachte, Sie htten das Klingeln vielleicht nicht gehrt.« Er nannte seinen Namen und fgte hinzu: »Man hat mir berichtet, da die Bedienung Anla zur Klage gab. Ich kam her, um zu fragen, ob ich Ihnen behilflich sein kann.«
»Wir erwarteten Mr. Trent«, antwortete der Sekretr.
»Mr. Trent ist heute abend nicht im Hotel.«
Whrend des Gesprchs hatten sich die beiden Mnner von der Tr entfernt und standen nun in der Diele, einem mit dicken Teppichen ausgelegten und mit zwei Polstersesseln und einem Tischchen geschmackvoll ausgestatteten Raum. Ein Stich von Morris Henry Hobbs zeigte das alte New Orleans. Am einen Ende der Diele befand sich die Doppeltr zum Korridor, am anderen die Tr zum Salon, die einen Spalt breit offen stand. Rechts und links fhrte je eine Tr in die kleine Kche und in ein Schlaf-Wohnzimmer, das gegenwrtig vom Sekretr bewohnt wurde und ihm auch als Bro diente. Die zwei nebeneinanderliegenden Hauptschlafzimmer der Suite waren sowohl durch die Kche als auch durch den Salon zu erreichen, eine wohlberlegte Anordnung des Architekten, die es heimlichen Schlafzimmerbesuchen ermglichte, notfalls durch die Kche herein- und hinauszuschlpfen.
»Warum kann man ihn nicht holen lassen?« Die Herzogin war in der Tr zum Salon aufgetaucht, drei wild klffende Terrier auf den Fersen, und scho die Frage auf Peter ab, ohne sich mit Vorreden aufzuhalten. Mit einem Fingerschnippen, das sofortigen Gehorsam erzwang, brachte sie die Hunde zum Schweigen und richtete ihren Blick forschend auf Peter. Er betrachtete das wohlgeformte Gesicht mit den hohen Wangenknochen, das ihm von zahllosen Fotos her vertraut war, und bemerkte, da die Herzogin auch in salopper Kleidung ihre Eleganz nicht verleugnete.
»Offengestanden, Durchlaucht, ich wute nicht, da Sie Mr.
Trent persnlich verlangt hatten.«
Graugrne Augen musterten ihn abschtzend. »Wenn Mr. Trent schon nicht da ist, htte ich wenigstens seinen Stellvertreter erwartet und nicht einen jungen Mann.«
Peter errtete unwillkrlich. Die Haltung der Herzogin von Croydon war von einer erhabenen Arroganz, die seltsamerweise etwas Anziehendes hatte. Peter fiel dabei ein Foto ein, das er in einer Illustrierten gesehen hatte. Es zeigte die Herzogin, wie sie auf einem Hengst ber ein hohes Gatter setzte. Unter Nichtachtung jeder Gefahr war sie vllig Her der Lage. Bei der Erinnerung daran berkam ihn das Gefhl, als wre er in diesem Moment zu Fu und die Herzogin hoch zu Ro.
»Ich bin stellvertretender Direktor. Deshalb bin ich selbst gekommen.«
In ihren Augen schimmerte es belustigt auf. »Sind Sie nicht noch ein bichen jung fr solch einen Posten?«
»Nicht unbedingt. Heutzutage haben viele junge Mnner leitende Posten in der Hotelbranche inne.« Er stellte fest, da sich der Sekretr diskret zurckgezogen hatte.
»Wie alt sind Sie?«
»Zweiunddreiig.«
Die Herzogin lchelte. Wenn sie wollte - wie jetzt -, strahlte ihr Gesicht bezaubernde Wrme aus. Dann war ihr vielgerhmter Charme nicht zu bersehen. Sie mochte fnf oder sechs Jahre lter sein als er, aber um einiges jnger als der Herzog, der fast fnfzig war. Nun fragte sie: »Haben Sie einen Kursus besucht oder so etwas?«
»Ich habe das Diplom der Cornell-Universitt - der Hotelfachhochschule. Bevor ich hierher kam, war ich stellvertretender Direktor des Waldorf.« Es kostete ihn berwindung, das Waldorf zu erwhnen, und fast htte er hinzugefgt: wo man mich mit Schimpf und Schande davongejagt hat, so da ich jetzt auf der schwarzen Liste aller Hotelkonzerne stehe und froh sein kann, da ich hier, in einem konzernfreien Haus, unterkriechen konnte. Aber natrlich sagte er nichts dergleichen, denn mit seiner privaten Hlle mute er allein fertig werden, auch wenn jemand durch Fragen unwissentlich alte, kaum verharschte Wunden aufri.
»Das Waldorf htte einen Zwischenfall wie den von heute abend nie geduldet«, entgegnete sie.
»Falls wir im Unrecht sind, Durchlaucht, kann ich Ihnen versichern, da auch das St. Gregory so etwas nicht durchgehen lt.«
»Falls Sie im Unrecht sind? Ist Ihnen eigentlich klar, da der Kellner meinem Mann die Shrimps Creole ber den Anzug geschttet hat?«
Das war so offensichtlich eine bertreibung, da er sich verblfft fragte, was die Herzogin eigentlich damit bezweckte. Es fiel auch vllig aus dem Rahmen des blichen, denn bisher waren die Beziehungen zwischen dem Hotel und den Croydons ausgezeichnet gewesen.
»Ich wei, da es eine kleine Panne gegeben hat, die vermutlich auf eine Unachtsamkeit des Kellners zurckzufhren ist. Und ich bin gekommen, um mich im Namen des Hotels zu entschuldigen.«
»Der ganze Abend ist uns durch diese >kleine Panne< verdorben. Mein Mann und ich wollten ihn hier in der Suite verbringen - ganz fr uns allein. Wir machten nur einen kurzen Gang ums Viertel und freuten uns aufs Souper, und dann passierte das!«
Peter nickte mitfhlend und ohne sich seine Verwunderung ber die Haltung der Herzogin anmerken zu lassen. Es hatte fast den Anschein, als wollte sie ihm den Zwischenfall fest ins Gedchtnis einprgen.
Er sagte: »Knnte ich vielleicht auch dem Herzog unser Bedauern ber -«
»Das ist nicht ntig«, erwiderte die Herzogin entschieden.
Er war im Begriff, sich zu verabschieden, als die Tr zum Salon, die angelehnt gewesen war, sich vollends ffnete, und der Herzog auf der Schwelle erschien.
Er war nachlssig gekleidet und trug nur ein zerknittertes weies Oberhemd und Smokinghosen. Instinktiv suchte Peter nach den Spuren der Shrimps Creole, die Natchez, wie die Herzogin behauptete, ber den Anzug ihres Mannes geschttet hatte. Er entdeckte einen kaum wahrnehmbaren Fleck, so winzig, da der Kellner ihn sofort htte entfernen knnen. Hinter dem Herzog, an einer Wand des Salons, flimmerte der Bildschirm des eingeschalteten Fernsehgertes.
Das Gesicht des Herzogs war gertet und faltig und wirkte lter als auf seinen letzten Fotos. Er hielt ein Glas in der Hand, und seine Stimme klang verschwommen. »Oh, Verzeihung! Hr mal, altes Mdchen«, sagte er zur Herzogin gewandt, »mu meine Zigaretten im Wagen liegengelassen haben.«
Sie erwiderte scharf: »Ich bring' dir welche.« Ihr Ton war schroff abweisend. Der Herzog machte mit einem Nicken kehrt und verschwand im Salon. Der kurze Wortwechsel hatte etwas seltsam Beklemmendes und schien den Zorn der Herzogin aus unerfindlichen Grnden noch strker anzufachen.
»Ich bestehe darauf, da Mr. Trent ein ausfhrlicher Bericht zugeht«, fauchte sie, »und ich erwarte, da er sich persnlich bei uns entschuldigt.«
Noch verdutzter als zuvor trat Peter den Rckzug an, und er war kaum drauen, als die Tr hinter ihm energisch geschlossen wurde.
Zum Nachdenken blieb ihm jedoch keine Zeit. Auf dem Korridor wartete der Boy, der Christine in die 14. Etage begleitet hatte. »Mr. McDermott«, sagte er eindringlich, »Miss Francis braucht Sie in der Nummer 1439. Kommen Sie, bitte,
4
Etwa eine Viertelstunde frher, whrend sie zum 14. Stock hochfuhren, sagte der Boy grinsend zu Christine: »Sie spielen wohl ein bichen Detektiv, Miss Francis?«
»Wenn der Hausdetektiv da wre, knnte ich mir das sparen«, antwortete Christine.
Der Boy, Jimmy Duckworth, ein untersetzter Mann mit beginnender Glatze und einem verheirateten Sohn, der in der Buchhaltung des St. Gregory arbeitete, machte nur verchtlich: »Ach der!« Gleich darauf hielt der Lift.
»Es ist Nummer 1439, Jimmy«, sagte Christine, und ganz automatisch schwenkten beide nach rechts. Sie waren beide mit der Geographie des Hotels vertraut, wenn auch auf sehr verschiedene Weise; der Boy hatte sich diese Sicherheit erworben, indem er jahraus, jahrein Gste aus der Halle in ihre Zimmer fhrte, Christines Ortskenntnis beruhte auf einer Serie geistiger Bilder, die sich ihr beim Studium des Hotelplans mit seinen einzelnen Stockwerken eingeprgt hatten.
Falls jemand vor fnf Jahren auf der Universitt von Wisconsin die Frage gestellt htte, womit sich die zwanzigjhrige Chris Francis, eine begabte Studentin mit einem Flair fr moderne Sprachen, spter wohl beschftigen wrde, dann wre selbst die ausschweifendste Phantasie nicht darauf verfallen, da sie als Direktionsassistentin in einem Hotel von New Orleans landen knnte. Zu jener Zeit kannte sie die mondsichelfrmige Stadt kaum und interessierte sich denkbar wenig fr sie. Sie hatte in der Schule im Geschichtsunterricht die Erwerbung von Louisiana durchgenommen und sich »Endstation Sehnsucht« angesehen. Aber sogar das Theaterstck war berholt, als sie nach New Orleans kam. Die Straenbahn hatte einem Dieselbus Platz gemacht, und Sehnsucht war ein unbedeutender Vorort im Osten der Stadt, den Touristen selten aufsuchten.
Vermutlich war es in gewisser Weise gerade die vllig fremde Umgebung, die sie nach New Orleans zog. Nach der Katastrophe in Wisconsin hatte sie dumpf und fast planlos nach einem Fleck Ausschau gehalten, wo man sie nicht kannte und der auch fr sie neu war. Vertraute Dinge, ihre Berhrung, ihr Anblick, ihr Klang verursachten ihr ein Herzweh, das sie ganz durchdrang, ihre Tage erfllte und sie sogar bis in den Schlaf verfolgte. Seltsamerweise - und damals schmte sie sich dessen beinahe - litt sie nie unter Alptrumen; sie sah nur immer wieder die Geschehnisse vor sich, so wie sie sich an jenem denkwrdigen Tag auf dem Madison-Flughafen vor ihren Augen abgespielt hatten. Sie hatte ihre Familie, die einen Europatrip plante, dorthin begleitet; ihre Mutter, frhlich und aufgeregt und geschmckt mit einer Orchidee, die eine Freundin ihr zum Abschied bersandt hatte; ihren Vater, entspannt und herzlich zufrieden darber, da die wirklichen und eingebildeten Leiden seiner Patienten einen Monat lang jemand anderen in Trab halten wrden. Er hatte seine Pfeife am Schuh ausgeklopft, als die Mischine ausgerufen wurde. Babs, ihre ltere Schwester, hatte Christine umarmt; und sogar Tony, die zwei Jahre jnger und ffentlichen Gefhlsergssen abgeneigt, lie sich gndig kssen.
»Auf Wiedersehen, Stubbs!« hatten Babs und Tony gerufen, und Christine hatte ber den alten kindischen Spitznamen gelchelt. Und alle hatten versprochen, ihr zu schreiben, obwohl sie zwei Wochen spter, nach Semesterschlu, in Paris wieder mit ihnen zusammentreffen sollte. Ganz zum Schlu hatte ihre Mutter sie fest an sich gedrct und gesagt, sie solle gut auf sich achtgeben. Dann war die groe Dsenmaschine zur Startbahn gerollt und hatte sich mit Drhnen majesttisch vom Boden abgehoben. Aber sie hatte noch nicht richtig an Hhe gewonnen, da sackte sie mit einem herabhngenden Flgel ab, wurde zu einem wirbelnden purzelnden Katharinenrad, dann einen Moment lang zu einer Staubwolke, flammte auf wie eine brennende Fackel und war endlich nur noch ein Haufen weitverstreuter Trmmer - von Metallteilen und menschlichen berresten
Das war vor fnf Jahren. Einige Wochen nach dem Unglck hatte sie Wisconsin verlassen und war nie mehr dorthin zurckgekehrt.
Christine und der Boy gingen den Korridor entlang, und der dicke Lufer dmpfte das Gerusch ihrer Schritte. Jimmy Duckworth dachte laut nach. »Nummer 1439... das ist doch der alte Herr... Mr. Wells. Vor ein paar Tagen haben wir ihn aus einem Eckzimmer dahin umquartiert.«
Einige Meter weiter unten ffnete sich eine Tr, und ein gutgekleideter Mann, Mitte der Vierzig, trat auf den Korridor. Er machte die Tr hinter sich zu und war im Begriff, den Schlssel einzustecken, zgerte aber, als er Christine erblickte und musterte sie mit unverhohlenem Interesse. Als er zum Sprechen ansetzte, schttelte der Boy fast unmerklich den Kopf. Christine, der das stumme Gebrdenspiel nicht entgangen war, dachte, da sie sich eigentlich geschmeichelt fhlen mte, fr ein Callgirl gehalten zu werden. Sie wute vom Hrensagen, da sich unter Herbie Chandlers Damenflor einige auerordentlich schne Mdchen befanden.
Im Weitergehen fragte sie: »Warum hat man Mr. Wells umquartiert?«
»Wie ich gehrt hab', Miss, hat der Gast, der die Nummer 1439 vorher hatte, Krach geschlagen, und da haben sie die Zimmer einfach ausgetauscht.«
Christine erinnerte sich nun wieder an die Nummer 1439; es hatte schon fter Beschwerden ber dieses Zimmer gegeben. Es lag unmittelbar neben dem Personalaufzug und war anscheinend Treffpunkt smtlicher Rohrleitungen. Infolgedessen war es sehr laut und unertrglich hei. Fast in jedem Hotel gab es mindestens einen solchen Raum - bei manchen hie er die Folterkammer -, und im allgemeinen wurde er nur dann vermietet, wenn das Hotel bis zum letzten Platz belegt war.
»Wenn Mr. Wells ein besseres Zimmer hatte, warum hat man ihn dann gebeten, umzuziehen?«
Der Boy zuckte mit den Schultern. »Danach sollten Sie lieber die Burschen am Empfang fragen.«
Sie gab nicht nach. »Aber Sie haben sich doch sicher Ihre Gedanken gemacht.«
»Tjah, also ich glaube, es liegt daran, weil er sich nie beschwert. Der alte Herr kommt seit Jahren her und hat noch nie auch nur einen Mucks gesagt. Und es gibt welche, die scheinen sich 'nen Spa daraus zu machen.« Christine prete rgerlich die Lippen zusammen, als Jimmy hinzufgte: »In der Kche hab' ich gehrt, da sie ihm unten im Speiserestaurant den Tisch direkt neben der Kchentr angewiesen haben, den sonst niemand haben will. Dem macht's ja nichts aus, sagen sie.«
Morgen frh wrde es einigen Leuten sehr viel ausmachen; dafr wrde sie sorgen, dachte Christine grimmig. Als sie sich vorstellte, wie schbig ein Stammgast, nur weil er ein ruhiger friedlicher Mensch war, behandelt worden war, sprte sie, wie es in ihr kochte. Und wenn schon! Ihre Temperamentsausbrche waren im Hotel nicht unbekannt; einige schrieben sie, wie sie gut wute, ihrem roten Haar zu. Im allgemeinen nahm sie sich sehr zusammen. Aber gelegentlich hatte ein solches Donnerwetter auch seinen Wert, weil es die Sumigen zum Handeln zwang.
Sie bogen um eine Ecke und machten vor der Nummer 1439 halt. Der Boy klopfte an die Tr. Sie warteten und lauschten. Niemand antwortete, und Jimmy Duckworth klopfte noch einmal und krftiger als vorher. Diesmal meldete sich der Bewohner sofort - mit einem unheimlichen Sthnen, das leise begann, anschwoll und unvermittelt abbrach.
»Den Hauptschlssel, schnell!« drngte Christine. »Machen Sie die Tr auf.«
Sie blieb zurck, whrend der Boy hineinging; selbst in einer so offenkundigen Notlage mute das vom Hotel vorgeschriebene Dekorum gewahrt werden. Im Zimmer war es dunkel; Duckworth knipste das Licht an und verschwand aus Christines Blickfeld. Gleich darauf rief er beschwrend: »Kommen Sie schnell, Miss Francis!«
Als sie den Raum betrat, empfing sie eine erstickende Hitze, obwohl der Schalter der Klimaanlage, wie sie mit einem Blick feststellte, auf »Kalt« zeigte. Zu weiteren Beobachtungen fehlte ihr die Zeit, denn ihre Aufmerksamkeit wurde vllig in Anspruch genommen von der rchelnden Gestalt, die halb aufgerichtet in den Kissen lehnte; das Gesicht aschgrau, rang sie mit hervorquellenden Augen und zitternden Lippen verzweifelt um Atem.
Christine trat rasch ans Bett. Vor Jahren hatte sie im Sprechzimmer ihres Vaters einen Patienten bei einem Erstickungsanfall erlebt. Sie konnte zwar nicht alles tun, was ihr Vater damals getan hatte, aber an eine Manahme erinnerte sie sich noch genau. »ffnen Sie das Fenster«, befahl sie Duckworth. »Wir brauchen hier drinnen unbedingt Luft.«
Die Augen des Boys klebten am Gesicht des keuchenden alten Mannes. Er erwiderte nervs: »Das Fenster ist versiegelt. Wegen der Klimaanlage.«
»Dann brechen Sie's auf. Schlagen Sie meinetwegen die Scheibe ein, wenn's nicht anders geht.«
Auf dem Nachttisch stand ein Telefon. Sie griff nach dem Hrer, und als sich die Zentrale meldete, sagte sie: »Hier ist Miss Francis. Ist Dr. Aarons im Hotel?«
»Nein, Miss Francis, aber er hat eine Telefonnummer hinterlassen, unter der ich ihn erreichen kann, wenn es sich um einen dringenden Fall handelt.«
»Der Fall ist sehr dringend. Sagen Sie Dr. Aarons, Zimmer 1439, und er mchte sich bitte beeilen. Fragen Sie ihn, wann er frhestens im Hotel sein kann, und rufen Sie mich hier an.«
Sie legte auf und wandte sich wieder dem Bett zu. Der schmchtige gelbliche Mann rang noch immer krampfhaft um Luft, und sie bemerkte, wie sein fahles Gesicht allmhlich blau wurde. Das Sthnen begann von neuem; es wurde von den Atembeschwerden verursacht, aber Christine erkannte, da sich die schwache Widerstandskraft des Kranken vor allem durch seine verzweifelten krperlichen Anstrengungen erschpfte.
»Mr. Wells«, sagte sie und versuchte ein Gefhl der Zuversicht zu bermitteln, das sie keineswegs empfand, »ich glaube, Sie knnen leichter atmen, wenn Sie ganz still liegen.« Erleichtert stellte sie fest, da der Boy am Fenster Fortschritte machte. Er hatte mit einem Kleiderbgel das Siegel an der Verriegelung gesprengt und stemmte nun den unteren Teil des Fensters Zentimeter fr Zentimeter hoch.
Wie als Antwort auf Christines beruhigende Worte lie das Keuchen des kleinen Mannes nach. Er hatte ein altmodisches Flanellnachthemd an, und als Christine einen Arm um ihn legte, sprte sie unter dem groben Stoff seine knochigen Schultern. Sie stopfte ihm die Kissen so in den Rcken, da er, von ihnen gesttzt, fast aufrecht sitzen konnte. Seine sanften Rehaugen sahen sie an und versuchten ihr seine Dankbarkeit auszudrcken. »Ich habe einen Arzt benachrichtigt«, sagte sie trstend. »Er mu jeden Moment kommen.« Indessen machte der Boy, vor Anstrengung keuchend, eine letzte Kraftanstrengung, der Verschlu gab pltzlich nach, und das Fenster glitt weit auf. Ein Schwall khler Luft drang ins Zimmer. Das Unwetter war also doch auf dem Weg nach dem Sden, dachte Christine dankbar; es trieb eine frische Brise vor sich her, und die Auentemperatur mute niedriger sein als seit Tagen. Das Telefon lutete. Sie bedeutete dem Boy durch ein Zeichen, ihren Platz am Bett des Kranken einzunehmen, und hob den Hrer ab.
»Dr. Aarons ist auf dem Weg ins Hotel, Miss Francis«, sagte das Mdchen aus der Zentrale. »Er war in Paradis, und ich soll Ihnen ausrichten, da er in zwanzig Minuten eintreffen wird.«
Christine berlegte. Paradis lag jenseits des Mississippi, noch hinter Algiers. Selbst ein schneller und geschickter Fahrer wrde die Strecke kaum in zwanzig Minuten schaffen. Auerdem zweifelte sie manchmal an der Kompetenz ds behbigen, trinkfesten Dr. Aarons, der als Hausarzt umsonst im Hotel wohnte und dafr stets verfgbar sein mute. »Ich glaube nicht, da wir so lange warten knnen«, sagte sie zu dem Mdchen. »Schauen Sie doch mal nach, ob wir unter den Gsten einen Arzt haben.«
»Das hab' ich schon getan.« Die Antwort klang eine Spur zu selbstgefllig, so als habe das Mdchen zu viele Geschichten ber heldenhafte Telefonfrulein gelesen und sich vorgenommen, den leuchtenden Vorbildern nachzueifern. »In der Nummer 221 wohnt ein Dr. Koenig und in der 1203 ein Dr. Uxbridge.«
Christine notierte sich die Nummern auf einem Block, der neben dem Apparat lag. »Schn, dann verbinden Sie mich bitte mit der 221.« rzte, die in Hotels absteigen, erwarten zu Recht, da man ihr Privatleben respektiert. Aber im Notfall durfte man sich schon mal ber das Protokoll hinwegsetzen.
Es klickte ein paarmal in der Leitung, whrend der Apparat am anderen Ende lutete. Dann meldete sich eine verschlafene Stimme mit deutschem Akzent: »Ja, wer ist dort?«
Christine stellte sich vor. »Verzeihen Sie die Strung, Dr. Koenig, aber einer unserer Gste ist schwer erkrankt.« Ihr Blick schweifte zum Bett hinber. Die bengstigende Blaufrbung des Gesichtes war verschwunden. Aber der kleine Mann war noch immer leichenbla und atmete mhsam wie zuvor. Sie fgte hinzu: »Es wre sehr freundlich, wenn Sie herberkommen knnten.«
Eine kurze Pause trat ein. Dann erwiderte dieselbe Stimme liebenswrdig: »Meine liebe junge Dame, ich wre nur zu glcklich, Ihnen einen, wenn auch noch so bescheidenen Dienst erweisen zu knnen. Aber ich frchte, ich kann Ihnen nicht helfen.« Er schmunzelte hrbar. »Sehen Sie, ich bin Doktor der Musik und in Ihre wunderschne Stadt gekommen, um als Gastdirigent - das ist, glaube ich, das richtige Wort - Ihr ausgezeichnetes Symphonieorchester zu leiten.«
Trotz Ihrer Besorgnis htte Christine fast gelacht. Sie entschuldigte sich. »Es tut mir sehr leid, da ich Sie im Schlaf gestrt habe.«
»Bitte, nehmen Sie sich das nicht zu Herzen. Sollte auch die andere Sorte Doktoren meinem unglcklichen Mitgast nicht mehr helfen knnen, dann knnte ich natrlich mit meiner Geige hinberkommen und fr ihn spielen.« Ein tiefer Seufzer kam durch die Leitung. »Gibt es einen schneren Tod als bei einem Adagio von Vivaldi oder Tartini sanft zu entschlafen?«
»Vielen Dank. Ich hoffe, das wird nicht ntig sein.« Sie legte auf und verlangte ungeduldig die nchste Verbindung.
Dr. Uxbridge in der Nummer 1203 meldete sich sofort mit einer Stimme, der jede Frivolitt fernlag. Christines erste Frage beantwortete er kurz und sachlich: »Ja, ich bin Arzt - Internist.« Er hrte sich Christines Erklrungen kommentarlos an und sagte dann knapp: »Gut, in ein paar Minuten bin ich bei Ihnen.«
Der Boy stand noch neben dem Bett. Christine befahl ihm: »Mr. McDermott ist in der Prsidentensuite. Warten Sie auf ihn und bitten Sie ihn, so schnell wie mglich herzukommen.« Sie griff wieder nach dem Telefonhrer. »Den Chefingenieur bitte.«
Zum Glck war der Chefingenieur fast immer zu erreichen. Doc Vickery war Junggeselle, wohnte im Hotel und hatte nur eine einzige Leidenschaft: die technischen Eingeweide des St. Gregory in ihrer gesamten Ausdehnung vom Keller bis unters Dach. Seit einem Vierteljahrhundert, seit er der See und seinem heimatlichen Clydeside ade gesagt hatte, beaufsichtigte er die Installationsanlagen des Hotels, und in mageren Zeiten, wenn das Geld fr Ersatzteile knapp war, verstand er es, den abgenutzten Maschinen Sonderleistungen abzuschmeicheln. Der Chefingenieur war ein Freund Christines, und sie wute, da sie zu seinen Lieblingen zhlte.
Nach wenigen Sekunden hrte sie seine Stimme mit ihrem rauhen schottischen Akzent. »Aye?«
In wenigen Worten berichtete sie ihm ber die Erkrankung von Albert Wells. »Der Doktor ist noch nicht da. Aber er wird wahrscheinlich Sauerstoff brauchen. Wir haben doch ein tragbares Gert im Hotel, nicht wahr?«
»Aye, wir haben Sauerstoffzylinder, Chris, aber wir verwenden sie blo beim Schweien.«
»Sauerstoff ist Sauerstoff«, antwortete sie. Einiges von dem, was sie bei ihrem Vater aufgeschnappt hatte, fiel ihr allmhlich wieder ein. »Die Verpackung spielt keine Rolle. Knnten Sie einen Mann von Ihrer Nachtschicht mit allem Notwendigen heraufschicken?«
Der Chefingenieur brummte zustimmend. »Freilich, und ich komm' auch, mein Mdel, sobald ich in die Hosen gefahren bin. Sonst kommt irgend so ein Witzbold auf die Idee, dem alten Mann einen Pott mit Azetylen unter die Nase zu halten, und das wrde ihm bestimmt den Rest geben.«
»Ach bitte, beeilen Sie sich.« Sie legte auf und beugte sich bers Bett.
Die Augen des kleinen Mannes waren geschlossen. Nun, wo er nicht mehr nach Luft rang, schien er berhaupt nicht mehr zu atmen.
Es klopfte leicht an die halb geffnete Tr, und ein hochgewachsener, hagerer Mann kam herein. Er hatte ein eckiges Gesicht, und sein Haar war an den Schlfen ergraut.
Unter dem konservativen dunkelblauen Anzug kam ein beiger Pyjama zum Vorschein. »Ich bin Dr. Uxbridge.« Die Stimme des Arztes strahlte Ruhe und Sicherheit aus.
»Herr Doktor, er hat eben erst... «
Dr. Uxbridge nickte und entnahm seiner Ledertasche, die er aufs Bett stellte, ein Stethoskop. Ohne Zeit zu verlieren, schob er es unter das Flanellnachthemd des Patienten und horchte rasch Brust und Rcken ab. Dann nahm er mit schnellen, sicheren Bewegungen eine Spritze aus der Tasche, setzte sie zusammen und brach den Hals einer kleinen Ampulle ab. Nachdem er die Spritze gefllt hatte, beugte er sich ber den Kranken, schob einen rmel des Nachthemdes hoch und drehte ihn zu einer provisorischen Aderpresse zusammen. »Halten Sie das fest und ziehen Sie's eng zusammen«, sagte er zu Christine.
Mit alkoholgetrnkter Watte tupfte er die Haut ber der Vene ab und stach die Nadel in den Unterarm. Er wies mit dem Kopf auf die Aderpresse. »Sie knnen jetzt loslassen.« Dann, nach einem Blick auf seine Uhr, begann er die Flssigkeit langsam zu injizieren.
Christines Blick heftete sich fragend auf das Gesicht des Arztes. Ohne aufzusehen, erklrte er: »Aminophyllin; es soll das Herz anregen.« Er blickte wieder auf die Uhr und erhhte die Dosierung nach und nach. Eine Minute verstrich. Zwei Minuten. Die Spritze war zur Hlfte geleert. Bisher zeigte sich keine Wirkung.
»Was fehlt ihm eigentlich?« flsterte Christine.
»Schwere Bronchitis in Verbindung mit Asthma. Ich vermute, er hat diese Anflle schon frher gehabt.«
Pltzlich dehnte sich die Brust des kleinen Mannes. Sie hob und senkte sich, langsamer als vorher, aber in vollen tiefen Atemzgen. Er schlug die Augen auf.
Die Anspannung im Raum lie nach. Der Arzt zog die Spritze heraus und nahm sie auseinander.
»Mr. Wells«, sagte Christine. »Mr. Wells, knnen Sie mich hren?«
Er nickte mehrmals hintereinander und sah sie aufmerksam an.
»Wir fanden Sie sehr krank vor, Mr. Wells. Das ist Dr. Uxbridge, ein Hotelgast, den wir um Hilfe baten.«
Der Blick des Kranken wanderte zum Arzt hinber. »Danke«, flsterte er mhsam. Es war fast ein Keuchen und das erste Wort, das der Kranke hervorbrachte. Sein Gesicht bekam allmhlich wieder ein wenig Farbe.
»Wenn jemand Dank verdient, dann diese junge Dame.« Der Arzt verzog sein Gesicht zu einem knappen Lcheln und sagte dann zu Christine: »Der Herr ist noch immer sehr leidend und bentigt auch weiterhin rztliche Betreuung. Mein Rat wre, ihn sofort in ein Krankenhaus zu berfhren.«
»Nein, nein! Das mchte ich nicht!« kam es hastig und eindringlich vom Bett her. Der kleine Mann beugte sich in den Kissen vor, mit unruhigem Blick, und seine Arme, die Christine vorhin zugedeckt hatte, lagen nun auf der Decke. Er atmete noch immer keuchend und mit Anstrengung, aber die akute Gefahr war vorber.
Christine hatte zum erstenmal Zeit, sein ueres genau zu betrachten. Ursprnglich hatte sie ihn auf Anfang Sechzig geschtzt; aber nun revidierte sie ihre Annahm und fgte ein halbes Dutzend Jahre hinzu. Er war von Gestalt schmchtig, und seine geringe Gre sowie seine abgemagerten, spitzen Gesichtszge und die ein wenig eingefallenen Schultern gaben ihm das sperlinghafte Aussehen, dessen sie sich von frheren Begegnungen her erinnerte. Die sprlichen grauen Haarstrhnen, sonst ordentlich zurckgekmmt, waren jetzt zerzaust und feucht von Schwei. Auf seinem Gesicht lag meistens ein milder, harmloser, fast abbittender Ausdruck, und dennoch sprte Christine darunter verborgene stille Beharrlichkeit.
Ihre erste Begegnung mit Albert Wells hatte vor zwei Jahren stattgefunden. Er war schchtern ins Verwaltungsbro gekommen, tief beunruhigt ber eine Unstimmigkeit in seiner Rechnung, ber die er sich mit der Kasse nicht hatte einigen knnen. Es handelte sich um einen Betrag von 75 Cents, und whrend sich der Hauptkassierer bereit erklrt hatte, den Posten ganz zu streichen - wie es gewhnlich geschah, wenn Gste geringfgige Betrge anzweifelten -, ging es Albert Wells darum, zu beweisen, da der Posten auf seiner Rechnung berhaupt nichts zu suchen hatte. Nach einigen geduldigen Umfragen stellte Christine fest, da der alte Mann recht hatte, und da sie selbst gelegentlich Anwandlungen von Sparsamkeit unterworfen war, die allerdings jedesmal von Ausbrchen wilder weiblicher Extravaganz abgelst wurden, sympathisierte sie mit dem kleinen Mann und achtete ihn seiner Charakterstrke wegen. Auerdem schlo sie aus seiner Hotelrechnung, die sich in bescheidenen Grenzen hielt, und aus seiner Kleidung, die offensichtlich von der Stange kam, da er nur ber geringe Mittel verfgte, vielleicht als Rentner lebte, und da die jhrlichen Besuche in New Orleans Hhepunkte in seinem Dasein waren.
»Ich mag Krankenhuser nicht«, erklrte Albert Wells. »Hab' sie nie gemocht.«
»Falls Sie hier bleiben«, wandte der Arzt ein, »brauchen Sie regelmig rztliche Betreuung und wenigstens fr die nchsten vierundzwanzig Stunden eine Pflegerin. Und eigentlich mten Sie auch ab und zu Sauerstoff bekommen.«
Der kleine Mann lie nicht locker. »Fr die Pflegerin kann doch das Hotel sorgen. Sie knnen das, Miss, nicht wahr?«
»Ich denke schon.« Albert Wells' Abneigung gegen Krankenhuser war anscheinend im Augenblick sogar strker als seine natrliche Zurckhaltung und der Wunsch, niemandem zur Last zu fallen. Christine fragte sich allerdings, ob er ahnte, wie kostspielig Privatpflege war.
Sie wurden unterbrochen. In der Tr tauchte ein Mechaniker im Overall auf und schob einen Sauerstoffzylinder auf einem Wgelchen vor sich her. Ihm folgte der stmmige Chefingenieur, der einen kurzen Gummischlauch, Draht und einen Plastikbeutel trug.
»Krankenhausmig ist es zwar nicht, Chris«, sagte er, »aber ich schtze, es funktioniert«. Er war hastig in die Kleider gefahren und hatte ein altes Tweedjackett und Slacks an; das Hemd war offen und enthllte ein Stck seiner behaarten Brust. Seine Fe steckten in offenen Sandalen, und unter dem kahlen gewlbten Schdel sa ihm die breitrandige Brille wie gewhnlich fast auf der Nasenspitze.
Dr. Uxbridge machte ein erstauntes Gesicht. Christine erklrte ihm, sie habe damit gerechnet, da Sauerstoff bentigt wrde, und stellte den Chefingenieur vor. Dieser nickte, ohne sich bei der Arbeit stren zu lassen, und sphte nur kurz ber den Rand seiner Brille. Gleich darauf, nachdem er den Schlauch angeschlossen hatte, verkndete er: »An diesen Plastikbeuteln sind schon ein Haufen Leute erstickt, aber das ist noch kein Grund, warum einer nicht auch mal das Gegenteil bewirken sollte. Was meinen Sie, Doktor, geht es so?«
»Davon bin ich berzeugt.« Dr. Uxbridge war nicht mehr ganz so zugeknpft wie bisher. Er sah Christine an. »Dieses Hotel scheint einige uerst tchtige Mitarbeiter zu haben.«
Sie lachte. »Warten wir's ab. Wenn wir erst mal Ihre Zimmerreservierungen durcheinandergebracht haben, werden Sie Ihre Meinung bestimmt ndern.«
Der Arzt ging wieder zum Bett zurck. »Der Sauerstoff wird Ihnen Erleichterung verschaffen, Mr. Wells. Diese Bronchialbeschwerden haben Sie vermutlich schon lnger.«
Albert Wells nickte. »Die Bronchitis habe ich mir als Grubenarbeiter geholt«, sagte er heiser. »Und spter kam dann noch das Asthma dazu.« Seine Augen schweiften zu Christine hinber. »Mir tut das alles sehr leid, Miss.«
»Ich bin auch traurig, vor allem, weil Sie Ihr Zimmer wechseln muten.«
Der Chefingenieur hatte indessen das andere Ende des Schlauchs an den grngestrichenen Zylinder angeschlossen. Dr. Uxbridge sagte ihm: »Wir wollen mit fnf Minuten Sauerstoff beginnen und danach fnf Minuten pausieren.« Gemeinsam befestigten sie die improvisierte Maske ber dem Gesicht des Kranken. Ein stetiges Zischen zeigte an, da der Sauerstoff einstrmte.
Der Arzt warf einen Blick auf seine Uhr und fragte dann: »Haben Sie einen hiesigen Arzt benachrichtigt?«